Bester Gefährte der Angst, die im Elfenbeinturm zur Wahrung der ungeschriebenen Gesetze eingesetzt wird und dabei ähnlich effektiv ist wie das Grenzsystem der Berliner Mauer, ist die schier unendliche Macht der Turmherrscher. Denn deren Wunsch ist Befehl.
Ich erinnere mich gut an eine Exkursion nach Prag. Einen Tag lang sollte eine Studentin der dortigen Uni unsere Gruppe durch die junge Galerieszene der Stadt führen, eingerahmt von Referaten einiger unserer Teilnehmer. Die Assistentin unserer Professorin war ebenfalls mit von der Partie: genauso wie ich zählte sie zum Fußvolk der Turmherrscher, von dem erwartet wird, ein Höchstmaß an Begeisterung gegenüber jedweder Aktivität von oben zu äußern. Nun hatte auch sie ein Referat über einen Ausstellungsbau der Nachkriegsmoderne vorbereitet. Am Abend vor dem Galerie-Tag fiel der Professorin zu vorgerückter Stunde ein, ihre Assistentin solle nicht nur das Referat auf englisch halten, sondern auch das zugehörige Thesenpapier übersetzen, „damit die tschechische Studentin weiß, worüber referiert wird“. Der besagte Ausstellungsbau zählt zu den bekanntesten Kunst-Einrichtungen der Stadt, was bei nüchterner Betrachtung die Vermutung nahelegen würde, dass Informationen darüber zwar für unsere Gruppe neu waren, nicht aber für die Prager Studenten. Wie auch immer: Die zaghaften Einwände meiner Kollegin fanden nicht nur kein Gehör, sondern sie wurden mit einer unwirschen Handbewegung beiseite gewischt. Somit war für die Turm-Sklavin die Nacht kurz und sie musste sich sputen, um mit der Übersetzung von Referat und Thesenpapier fertig zu werden.
Am nächsten Morgen warf die tschechische Studentin nur einen kurzen Blick auf die übersetzten Seiten und verbrachte den Vortrag meiner Kollegin damit, in ihre Handy Tastatur zu tippen und ihren social media account auf den neuesten Stand zu bringen.
Weshalb hatte meine Kollegin den Auftrag der nächtlichen Übersetzung nicht abgelehnt? Wieso kam die Turmherrscherin überhaupt auf die Idee, um 22 Uhr noch derartige Wünsche zu äußern? Die Antwort lautet MACHT: weil die Turmsklaven in steter Angst leben, den Ansprüchen ihrer Herrscher, und seien sie auch noch so hirnrissig, nicht zu genügen, tun sie beinahe alles, um in deren Gunst zu stehen.
Fragen nach dem Sinn sollte man im Elfenbeinturm ohnehin grundsätzlich nicht stellen: Fragen, warum man Aufsätze, Beiträge, Artikel etc. wie am Fließband schreiben soll, die außerhalb der exklusiven Turm-Community ohnehin kaum jemand liest. Fragen muss man sich allerdings, warum man im Elfenbeinturm offensichtliche Ungerechtigkeiten mit großer Selbstverständlichkeit hinnimmt. So hatte eine meiner Turmherrscherinnen kurzerhand Urlaubsanspruch in einem vollen Jahresausmaß von meinem Zeitkonto gestrichen aus Ärger darüber, dass ich nach einem Hörsturz und nachfolgendem Tinnitus einige Wochen krankgeschrieben war. Sie meinen jetzt, das müsste doch seitens der Elfenbeinturm-Geschäftsleitung Konsequenzen haben: Arbeitsrecht ist schließlich Arbeitsrecht. Nicht so im Turm, liebe Leser: Dort herrschen ganz andere Gesetze.